Auch Beifahrer können Mitschuld tragen

Kommt es zum Verkehrsunfall, so haften in der Regel Fahrer und Halter der beteiligten Fahrzeuge und natürlich die dahinter stehenden Versicherungen (§ 115 VVG in Verbindung mit dem Pflichtversicherungsgesetz). Dass der Beifahrer ein Mitverschulden an den eigenen Verletzungen haben kann, ist eher unbekannt, kommt aber in der Praxis häufig vor. Es sind hier drei grundlegende Fallkonstellationen denkbar.

  1. Ein direkter Eingriff des Beifahrers in den Fahrvorgang
  2. Eine Nichtnutzung von Sicherheitseinrichtungen
  3. Das Mitfahren mit einem erkennbar fahruntauglichen Fahrer

In allen Fallkonstellationen kann es zu einem hohen Grad an Mitverschulden kommen, was zu einer deutlichen Verringerung der Ansprüche des Beifahrers führen kann. Daher ist hier viel Fingerspitzengefühl vonnöten, wenn ein entsprechender Einwand des Haftpflichtversicherers kommt.

Das Landgericht Stuttgart sowie das Oberlandesgericht Stuttgart als Berufungsinstanz hatten sich erst kürzlich mit den Einwänden 2 und 3 zu befassen. Folgende Fallkonstellation stand zur Überprüfung: Der später geschädigte Beifahrer war zunächst zusammen mit seiner Lebensgefährtin nach der Arbeit in eine nahegelegene Wirtschaft gegangen, um dort den Feierabend einzuläuten. Man trank gemeinsam je ein Bier, geriet dann aber in Streit und saß an zwei getrennten Tischen. Trotz des Streits fuhr die
Lebensgefährtin dann gemeinsam mit ihrem Bekannten, dem Kläger, von der Wirtschaft zu einem nahegelegenen See. Auf dem Weg dorthin geriet sie mit ihrem Auto von der Fahrbahn, flog eine Böschung hinunter und traf mit dem Dach einen Baum. Während die Fahrerin nur leicht verletzt war, erlitt der Beifahrer eine Tetraplegie. Als die Rettungskräfte am Auto ankamen, war der Beifahrer nicht angeschnallt. Eine Blutprobe ergab bei ihm und bei ihr Promillewerte von deutlich über 1,1.

Die namhafte beklagte Versicherung wandte nunmehr erwartungsgemäß ein, dass der klagende Beifahrer selbst schuld an seinen Verletzungen sei, da er nicht angeschnallt war und mit einer Betrunkenen mitgefahren sei. Daher müsse er sich ein 60 %-iges Mitverschulden zurechnen lassen. Dem trat der Kläger entgegen mit der Behauptung, dass er nicht gewusst habe, wie viel die Fahrerin getrunken habe, auch sei er angeschnallt gewesen, er habe allenfalls nach dem Unfall seinen Gurt gelöst.
Das Landgericht ebenso wie das Oberlandesgericht gaben dem Kläger vollumfänglich Recht. Um die Gründe hierfür verstehen zu können, ist vorab ein kleiner Exkurs ins Beweisrecht notwendig. In einem deutschen Zivilverfahren muss stets die Partei diejenigen Tatsachen beweisen, die für sie günstig sind. Kann der Beweis nicht angetreten werden, so gilt die Tatsache als nicht erwiesen, was zu Lasten desjenigen geht, der beweisbelastet ist. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass der Kläger beweisen musste, dass er Beifahrer und das Auto bei der Beklagten versichert war, ebenso dass er bei dem Unfall verletzt wurde. All dies wurde von der beklagten Versicherung nicht bestritten und galt damit als zugestanden. Die beklagte Versicherung wiederum musste beweisen, dass er von der Trunkenheit der Fahrerin wusste und dass er nicht angeschnallt war.

Zur Trunkenheit der Fahrerin führte das Oberlandesgericht aus:

„Nachdem nicht bewiesen ist, dass bei der Zeugin Ausfallerscheinungen aufgetreten sind, die der Kläger hätte wahrnehmen können, erlaubt allein die bei der Zeugin nach dem Unfall festgestellte Blutalkoholkonzentration nicht den Schluss, dem Kläger habe die Alkoholisierung nicht entgehen können. (…) Bereits der Genuss eines Bieres genüge, das Sensorium soweit einzuschränken, dass der Alkoholgeruch in der Atemluft eines anderen möglicherweise nicht mehr wahrgenommen werde.“ Dies bedeutet, dass es auch wenn der Fahrer betrunken war, nicht zwingend zum Mitverschulden kommen muss, wenn entsprechend argumentiert wird.

Komplizierter wird die Sache mit dem Sicherheitsgurt. Hier führt das Gericht aus: „Der für den Unfall Verantwortliche muss nicht nur beweisen, dass der Verletzte nicht angeschnallt war, sondern auch dass dieses Versäumnis die Verletzungen verursacht hat. Zugunsten des Haftpflichtigen kann der Beweis des Ersten Anscheins (Beweislastumkehr) für seine Behauptung eingreifen, der verletzte Insasse sei nicht angeschnallt gewesen (…), wenn die erlittenen Verletzungen bei der Art und Weise des Zusammenstoßes nur darauf zurückgeführt werden können, dass der PKW-Insasse (Beifahrer) nicht angeschnallt war. Der Anscheinsbeweis greift jedoch nicht ein, wenn das Schadengeschehen Umstände aufweist, die es als ernsthaft möglich erscheinen lassen, dass der Unfall anders abgelaufen ist als nach dem Muster der der Anscheinsregel zugrundeliegenden Erfahrungstypik.“

Allerdings, so das Gericht, sei hier der Anstoß im Dachbereich erfolgt. Hierbei sei das Dach derart eingedrückt worden, dass die Verletzungen auch bei einem angeschnallten Beifahrer durch die Raumminderung im Kopfbereich hätte erfolgen können. Daher greife der Beweis des ersten Anscheins nicht. Daher bleibt es bei der Pflicht der Beklagten, zu beweisen, dass der Kläger nicht angeschnallt war. Diesen Beweis kann sie nicht antreten, da sich der Kläger auch selbst nach dem Unfall vor Eintreffen der Rettungskräfte hätte abschnallen können.

FAZIT:

Der Fall zeigt anschaulich, dass bei richtiger Strategie auch die K.O. Argumente „nicht angeschnallt“ und „betrunkener Fahrer“ nicht zwingend zu einem Mitverschulden des Beifahrers führen. Wichtig ist hierbei, dass von Anfang an, also bereits bei der vorgerichtlichen Korrespondenz stringent und fehlerfrei argumentiert wird. Die Hinzuziehung eines Anwalts – vorzugsweise eines Verkehrsrechtsspezialisten bereits unmittelbar nach dem Unfall – empfiehlt sich daher Die Urteile können beim Verfasser unter info@querschnittlaehmung.net in anonymisierter Form angefordert werden. Weitere Beiträge auf www.querschnittlaehmung.net. Der Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht Oliver Negele, Mitarbeiter der AG Recht der FGQ (Fördergemeinschaft
der Querschnittgelähmten), bearbeitet derzeit ca. 30 Fälle aus dem Bereich Großpersonenschaden im Jahr.