Keine Abfindungsvereinbarung bei Kindern

In letzter Zeit häufen sich bei uns in der Kanzlei Fälle, in denen schwerstgeschädigte junge Erwachsene an mich herantreten mit der Bitte, ihren Fall nochmals zu prüfen. Sie wären als Kinder verunglückt und ihre Eltern hätten sich um die Regulierung gekümmert, meist anwaltlich vertreten, manchmal auch ganz ohne Anwalt. Nun hätten sie sich an die Versicherung gewandt, weil sie irgendein Hilfsmittel benötigen würden, den Umbau des Arbeitsplatzes oder weil sich ihr Zustand verschlechtert hätte. Stets bekamen Sie die gleiche Antwort: Der Fall sei bereits vor Jahren abgefunden worden, und im Übrigen seien etwaige Ansprüche ohnehin verjährt.

Eine Recherche ergibt dann meist, dass tatsächlich eine Abfindung vereinbart wurde, das
Geld aber schon längst verbraucht ist für Hausbau, ein behindertengerechtes Fahrzeug oder – man kann es kaum glauben – bedürftige Verwandte. Hier kann nur noch der Rat erteilt werden, sich an die Sozialkassen zu wenden, denn die Abfindungsvereinbarungen sind in der Regel wirksam, da die Eltern zum Zeitpunkt des Abschlusses die elterliche Sorge innehatten.

Eine Abfindungserklärung hat immer einen gewissen Charme. Die Summen, mit denen die Versicherungen hier die Vereinbarung schmackhaft machen wollen, sind oft verlockend hoch, meist im unteren siebenstelligen Bereich. Auch kann so einem langen Verfahren und eventuell zu führenden Prozessen entgangen werden. Allerdings darf eines niemals vergessen werden: Eine Abfindungsvereinbarung ist in der Regel
darauf gerichtet, dass sämtliche Ansprüche ein für allemal, für jetzt und in alle Zukunft abgefunden werden.

Teure Zukunft
Heutzutage hat auch ein schwerstgeschädigtes Kind auf Grund der hervorragenden medizinischen Betreuung ein gute Chance, sehr alt zu werden. Ein Vorversterberisiko, welches tatsächlich immer noch von Versicherungen ins Feld geführt wird, ist nicht abschätzbar und in den meisten Fällen auch nicht gegeben, zumal Schwerstgeschädigte weder zu Alkohol- oder Nikotinmissbrauch neigen und auch weder Fallschirmspringen noch sonstige Risikosportarten betreiben.

Heutzutage hat auch ein schwerstgeschädigtes Kind auf Grund der hervorragenden medizinischen Betreuung ein gute Chance, sehr alt zu werden.

Auch besteht quasi aufgrund der Niedrigzinspolitik in Europa auch keinerlei Aussicht, einen großen Geldbetrag mündelsicher verzinst anzulegen. Nachfrage bei meiner Hausbank, bei der ich für einen Mandanten 2,5 Mio € zwischenlagern sollte, ergab, dass man 0,9 % Zinsen anbietet, allerdings nur für die ersten 100.000 €, für höhere Beträge gäbe es gar keine Zinsen mehr.

Dem gegenüber stehen ständig wachsende Kosten für Pflege, Versorgung und Unterkunft. Keiner der heute Lebenden kann abschätzen, wie sich die Zukunft in 40, 50 oder 60 Jahren darstellen wird. Kostet die Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung beispielsweise nur 200 € am Tag, so werden hieraus auf die nächsten 70 Jahre gerechnet unglaubliche 200 € x 30 x 12 x 70 = 5,04 Millionen €, und das ganz ohne Preissteigerung. Nimmt man noch einen Verdienstausfall von 2.000.- € im Monat an, so ergibt sich bei einer Lebensarbeitszeit von 45 Jahren ein weiterer Betrag von 1,08 Mio €. Bereits die reinen Basics belaufen sich daher ohne Inflation auf mehr als 6,0 Mio €.

Was nützt im Lichte dessen eine Abfindung von 1,5 Mio €? Hier macht nur einer ein gutes Geschäft – die Haftpflichtversicherung.

Auch ein ganz anderer Faktor spielt eine Rolle. Die Eltern entscheiden in der Regel für ihr Kind bis zu dessen 18. Lebensjahr. Danach endet das elterliche Sorgerecht. Treffen die Eltern aber die Entscheidung, Ansprüche ihres schwerverletzten Kindes vollständig abzufinden, so entscheiden sie faktisch dessen ganzes Leben.

Leider gibt es kein Gesetz, dass derlei verbietet, nur Aufklärungsarbeit. Wenn schon eine Abfindung sein muss – aus welchen Gründen auch immer – dann mein Appell an die Eltern: Immer nur bis zum 18. Lebensjahr. Danach soll der Geschädigte sein Schicksal selbst bestimmen können.

Immer auf die Verjährung achten. Selbst wenn keine Abfindungsvereinbarung
getroffen wurde und damit schon ein Schritt in die richtige Richtung getan ist. Das deutsche Gesetz sieht vor, dass Ansprüche binnen drei Jahren nach der Entstehung verjähren. Davon sind auch Spätschäden, die medizinisch absehbar waren, umfasst.

Daher sollte immer ein „Anerkenntnis mit Wirkung eines (am Unfalltage) ergangenen Feststellungsurteils“ eingefordert werden. Dieses schützt dann die Ansprüche (mit Ausnahme von wiederkehrenden Leistungen) für die nächsten 30 Jahre, danach besteht ein Anrecht darauf, dass die Versicherung eine weitere derartige Erklärung abgibt.
Weitere Informationen können wie immer beim Verfasser unter info@querschnittlaehmung.net in anonymisierter Form angefordert werden. Weitere Beiträge auf www.querschnittlaehmung.net. Der Rechtsanwalt und Fachanwalt
für Verkehrsrecht, Oliver Negele, Ansprechpartner der AG Recht der FGQ (Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten), bearbeitet derzeit
ca. 30 Fälle aus dem Bereich Großpersonenschäden im Jahr.